Mal wieder bewahrheitet sich das Sprichwort: Du sollst den Tag nicht vor dem Abend loben!
Gerade eben habe ich noch die Gewaltfreiheit meiner Kinder gelobt, und schon geht alles den Bach runter. Ich brauche mir wohl doch keine Sorgen darüber zu machen, dass der Junge verweichlicht und durch zu viel weibliches pädagogisches Personal in der Kita verzärtelt wird. Er hat jetzt nämlich gelernt, wie man sich wehrt, und das hat er auch bitter nötig, denn seine Schwester, das Kind, kennt keine Gnade…
Der Junge ist jetzt 20 Monate alt und fast kein Baby mehr, das führt dazu, dass seiner Schwester so langsam die Beißhemmung abhanden kommt. Ich finde ja, dass der Junge immer noch aus purem Kindchenschema besteht und einfach nur zum Knuddeln ist, aber bei mir verfangen die Pausbacken und die speckigen Knie wahrscheinlich mehr als bei seiner Schwester.
Das Kind ist inzwischen 6 und kommt in ein paar Tagen in die Schule. Bisher hat sie ihre Rolle als Vorzeige-Schwester bravourös gemeistert. Sie war stets geduldig, wenn der Kleine Aufmerksamkeit brauchte oder auch nur ein Fläschchen. Liebevoll aber bestimmt hat sie ihm, wenn ihr das Geschrei zu bunt wurde, einen Schnulli in den Mund gestopft. Wie eine Löwenmutter hat sie sich zwischen den kleinen Bruder und die aufdringlichen Groupies in der Kita geworfen, die gar nicht genug davon bekommen konnten, den Jungen anzufassen und mit ihm „Baby“ zu spielen. Widerwillig und gedemütigt, aber schließlich doch mit einer gewissen Einsicht ertrug sie es, dass der Junge bis nach 22 Uhr aufbleiben darf (sofern „dürfen“ hier die richtige Kategorie ist), sie hingegen um halb 9 das Licht ausmachen soll.
Aber das war einmal. Der Junge ist jetzt nämlich mobil, neugierig, schnell und frech. Wenn das Kind sein künstlerisches Potenzial mit allerlei Perlen, Schnippseln, Fäden, Scheren, Kleber und Stiften auf dem Boden im Kinderzimmer exzessiv auslebt, stört da der kleine Bruder, der sich auf den Kunstwerken am liebsten mit verewigen würde, natürlich ungemein. Schnell wird es laut und rabiat, Türen knallen, nachdem der Junge des Saales verwiesen und schreiend im Flur ausgesetzt wurde, Fäuste fliegen gegen die Kinderzimmertür und das Kind schreit: „Der soll hier weg!“ Äh, ja.
Im ersten Moment tut mir der Junge Leid, im zweiten Moment erinnere ich mich daran, wie sehr mich der eigene kleine Bruder früher genervt hat und im dritten Moment hat der Junge den Weg ins Kinderzimmer zurück gefunden und stürzt sich auf die Schwester. Ein Kampf entbrennt, der mit Leidenschaft und unter Aufbietung aller lauterer und unlauterer Mittel geführt wird. Der Junge haut, das Kind haut zurück und pariert geschickt in einer Mischung aus Hysterie und Kampfeslust die Attacken des Jungen. Es fällt mir sehr schwer festzustellen, wer hier eigentlich der Aggressor und wer das Opfer ist und trotz aller Wut, die in der Luft schwebt, scheint das Ganze für die beiden auch irgendwie eine lustvolle Angelegenheit zu sein.
Staunend stehe ich dann neben meinen beiden kämpfenden Kindern und merke, wie sich ein irritierendes Gefühl von Stolz in mir regt. Die können sich ja wehren, alle beide! Nicht schlecht, das ist doch auch eine Fähigkeit, die man für später gut gebrauchen kann, oder?