So viele Kartons stehen herum und sind gerade erst abgeladen worden. Abgeladen – wie das klingt … Meine Sachen kann man doch nicht einfach abladen. Aber die Männer mit den großen Muskeln waren da gar nicht sentimental. Die Kisten mit meinen Kostbarkeiten haben sie aus dem Lastwagen getragen und einfach hierhin gestellt, mitten in mein kleines neues Appartement. Es ist ihnen egal, was in den Kisten ist, sie sind es gewohnt, alles ein- und auszuladen, sie sind da gar nicht wählerisch. Die Muskelmänner wissen nicht, was sich in den Kisten verbirgt und behandeln die Kochbuchkiste genauso wie die mit den Liebesbriefen. Die Kiste mit den Kristallgläsern, aus denen meine Oma so gerne Portwein getrunken hat, ist ihnen ebenso einerlei wie die mit den Bilderbüchern aus meiner Kindheit, die geduldig auf die nächste Generation warten.
Von außen scheint eine Kiste wie die andere. Wer hineinschaut, sieht einfach Dinge. Und ich sehe mein Leben, die Vergangenheit und einen Neubeginn.
Dieser Text ist im Rahmen meines Kurses zum kreativen Schreiben entstanden.
Dieses Abstandhalten in einer Welt, die sowieso schon so „auf Abstand“ ist. Alle machen große Bogen umeinander, dabei beäugt man sich, die Blicke sagen: „Komm‘ mir nicht zu nah!“ Und kommt man einem zu nah, dann spürt man fast die Luft kribbeln, wenn der virtuelle Radius penetriert wurde vom Gegenüber, oder schlimmer, wenn man selbst es war, der dem anderen zu nahe gekommen ist. Abstandhalten, kein Körperkontakt, Anonymität, verhüllte Gesichter … Warum soll ich noch lächeln, wenn es keiner sieht, wenn keiner sich die Mühe macht, in meinen Augen nachzuforschen, um zu erkennen, ob sie mitlächeln?
Vielleicht ginge es aber auch anders. Wenn wir uns nicht mehr annähern dürfen, unsere Gesichter nicht mehr zeigen dürfen, warum lachen wir nicht laut? Singen und springen durch die Gegend (natürlich mit Abstand), machen uns laut und deutlich Komplimente – laut und deutlich! – und erzählen uns, wie gerne wir uns in den Arm nehmen und berühren würden.
Und dann machen wir es einfach, wenn es keiner sieht.
Dieser Text ist im Rahmen meines Kurses zum kreativen Schreiben entstanden.
Man sagte ja zu Beginn der Corona-Krise, dass selbige eine Chance für Familien sei. Nun, wir haben die Chance genutzt und sind in meine alte Heimat, zurück ins Rheinland gezogen. Mit Sack und Pack. Zum Glück fanden der Mann, das Kind und der Junge die Idee auch gut. Wir sind jetzt Kleinstädter, leben aber mitten in der Stadt, eigentlich noch städtischer, als in Stuttgart. Alles ist zu Fuß erreichbar. Wir haben zwar keinen Garten, aber einen Hof, den wir uns fein herrichten wollen, aber erst im nächsten Jahr, vorher gibt es noch ein paar größere Baustellen (und das ist leider wörtlich zu nehmen), die wir angehen müssen.
Wir leben uns jetzt ein, auch wenn wir noch ohne Küche, ohne Wohnzimmer und noch inmitten von Kartons wohnen. Kinder und Mann gehen fleißig zur Schule und gewöhnen sich an das neue Schulsystem hier in NRW. Ich studiere weiter und prokrastiniere gerade die Abgabe meiner aktuellen Hausarbeit, um dann in Kürze ins nächste Semester zu starten. Außerdem bin ich auf Jobsuche.
Das Kind hat sich entschieden, erst einmal ganz in Ruhe anzukommen und sich keinerlei Hobbies zu suchen, die Schule sei schon anstrengend genug. Ich glaube, mit 13 ist einfach alles anstrengend. Der Mann hat mit unserem neuen Domizil quasi ‚frei Haus‘ und ungefragt ein neues Hobby dazu bekommen – Stichwort: Baustellen. Der Junge ist jetzt Pfadfinder, ein kleiner Wölfling, und will außerdem wieder zum Leichtathletik gehen. Zum Klavierunterricht ist er auch schon angemeldet, aber hier wollen wir den Start noch etwas aufschieben, bis unsere Räumlichkeiten ein wenig konzerttauglicher sind.
Ich selbst würde gerne etwas mehr Fiktion in mein Leben bringen und habe mich daher zu einem kreativen Schreibkurs angemeldet. Den ersten Termin hatte ich schon, aber dazu später mehr. Außerdem muss ich mir dringend einen neuen Chor suchen, denn das Singen vermisse ich sehr. Vielleicht bin ich schon fündig geworden, aber wegen terminlicher Überschneidungen kann ich erst zum Probeüben gehen, wenn mein Schreibkurs vorbei ist. Sportlich bin ich endlich auch wieder. Nach dem deutlichen Temperaturrückgang der letzten Tage/Wochen gehe ich wieder laufen, was hier rund um unser Kleinstädtchen in alle Himmelsrichtungen ziemlich gut geht. Ich kann mir aussuchen, ob ich in den Wald, am Wald entlang, an den Bahngleisen entlang in die eine oder in die andere Richtung oder ins Feld laufe.
Die Luft hier riecht übrigens wie früher. Das ist verdammt schön!
Wer hätte das gedacht, dass das nächste ‚Major-Ereignis‘ nach der Einschulung des Jungen ca. 1,5 Jahre später in Form einer Pandemie auftreten würde und mich dazu verleitet, einen neuen Blogeintrag zu schreiben. Ich habe ja jetzt so viel Zeit – [what?] – und könnte doch wirklich mal wieder beginnen, diesen Blog hier zu betreiben.
Corona ist für mich als Biochemikerin ein wissenschaftliches Faktum, mit dem zu befassen mir tatsächlich ein wenig Freude bereitet. Andererseits leide ich als Elternteil unter der Situation des ‚Homeschoolings‘ und vermisse Ruhe und Kontemplation. Die angebliche ‚Chance‘, die die Krise für Familien darstellen soll, offenbart sich mir bisher nur in Teilen.
Wobei: Wir spielen jetzt an jedem zweiten Abend gemeinsam ein Gesellschaftsspiel und streiten auch nur ganz selten darüber, welches. Dafür streiten wird insgesamt deutlich mehr, vor allem darüber, ob/wie/wann die von der gesamten Familie vereinbarten Regeln für die Corona-Time eingehalten werden. Mir scheint, dass ich in dieser Familie der einzige Blockwart bin, der auf die Einhaltung der Regeln pocht, damit aber meist grandios scheitert.
Regel 1: Aufstehen vor 9 Uhr (unter der Woche) für alle. Diese Regel funktioniert bei allen, außer dem Kind (13). Das Kind ist inzwischen pubertär und braucht seinen Schönheitsschlaf, deshalb steht es in der Regel erst dann auf, wenn wir vom Spaziergang mit dem Hund [ja, wir haben seit etwas über einem Jahr einen Hund – unglaublich – ein eigenes Thema, das ich hier auch einmal bearbeiten sollte] wieder nach Hause kommen. Ich hoffe, der viele Schlaf zahlt sich aus und die Schönheit stellt sich ein. Natürlich ist das Kind schon jetzt wunderschön!! Der Junge (8) erscheint in der Regel im elterlichen Bett oder der Küche noch bevor der Mann und ich den Hund ausführen. Er kommt nicht mit raus, klar, ruft uns aber dafür während des Spaziergangs mehrfach an, um seine Bäckereibestellung zu ändern oder sich bereits zehn Minuten, nachdem wir weg sind, danach zu erkundigen, wann wir endlich wieder zurück sind.
Regel 2: Vormittags arbeiten alle, die Kinder und der Mann für die Schule und ich für die Uni oder die Arbeit. Diese Regel scheitert bereits an der Definition ‚Vormittag‘. Während das Kind seinen Tag de facto erst am Mittag beginnt, nehmen der Mann, der Junge und ich nach dem Hundeausgang ein zweites Frühstück zu uns, so dass der Schreibtisch selten vor 10 oder 11 Uhr besetzt ist. Geht man davon aus, dass der Vormittag Punkt 12 endet, ist die Arbeitszeit sehr eingeschränkt. Hinzu kommt, dass der Junge sich nur unter Anwendung von Versprechungen und Belohnungen zur Erledigung seiner Schulaufgaben motivieren lässt und zusätzlich auch immer wieder Hilfe – oder sagen wir: Zuspruch – benötigt. Das heißt also, selbst wenn der Junge gerade arbeitet, arbeite ich ganz sicher nicht. Das Kind erhält von den Gymnasiallehrer*innen über Moodle Aufgaben und erledigt diese auch fristgemäß – glaube ich. Ich vermute allerdings, dass dafür nicht das ursprünglich vorgesehene Zeitfenster, der Vormittag, verwendet wird.
Regel 3: Die Kinder gehen zwischen 14 und 15 Uhr gemeinsam mit dem Hund raus. Diese Regel klappt einigermaßen, wobei sich das Kind zunehmend weigert, den Jungen mitzunehmen, weil es sich damit überfordert fühlt, gleichzeitig Bruder und Haustier zu beaufsichtigen und es sich außerdem lieber mit einem Schulfreund zu diesem Spaziergang trifft. Dafür habe ich vollstes Verständnis. Wenn der Junge aber nicht nachmittags mit dem Hund rausgeht, müssen wir Eltern dafür sorgen, dass er anderweitig einmal am Tag gelüftet wird. Wir bemühen uns nach Kräften, aber die Anreize nach draußen zu gehen sind für alle irgendwie eingeschränkt, es sei denn man möchte sich mit 100 anderen Familien auf einer der fünf großen Wiesen der Parks in der näheren Umgebung zum Familienfußball/-picknick treffen. Wären doch wenigstens die Spielplätze geöffnet, dann könnten sich die die vielen Hausgemeinschaften bei Sport und Spiel etwas besser verteilen.
Regel 4: Mindestens einmal pro Tag (Vor-)Lesen. Die ursprüngliche Idee dahinter war natürlich, insbesondere die Kinder zum Lesen zu motivieren. Ich lese sowieso, der Mann hin und wieder, aber die Kinder … Dem Jungen würde das ganz bestimmt beim lesen Lernen helfen und auch das Kind sollte mittelfristig seinen literarischen Kanon über die Harry-Potter-Bände hinaus erweitern. Das tut es jetzt auch, allerdings in einem Genre, auf das ich hier nicht näher eingehen möchte (Kennt jemand: Anna Todd?). Das gemeinsame Vorlesen mit dem Jungen war an den ersten zwei coronaschulfreien Tagen noch halbwegs engagiert (nach der Methode: Ich lese zwei Seiten, der Junge eine Seite), ebbte dann aber rapide ab. In einem halbherzigen Versuch habe ich begonnen, ihm Momo vorzulesen und bin dabei selbst ganz wehmütig geworden – mehr ist dann aber auch nicht passiert. Wir sind, glaube ich, auf Seite 35 stehengeblieben, noch bevor auch nur ein grauer Herr die Szene betrat.
Regel 5 betrifft die Aufgabenverteilung: Ich putze (wie immer), der Mann macht die Wäsche (wie immer), alle räumen ihre Arbeitsplätze auf (wie nie – und auch jetzt nicht), der Junge gießt die Pflanzen (hin und wieder), das Kind kocht mit dem Mann (kommt vor). An dieser Stelle ist also alles weitgehend unverändert geblieben.
Regel 6: Wir spielen jeden Abend ein Gesellschaftsspiel. Wie bereits geschildert, haben wir diese Regel auf jeden zweiten Abend abgemildert und schaffen das auch halbwegs. Alle sind inzwischen in einem Alter, das es ihnen erlaubt, ohne Tränen zu vergießen auch mal verlieren zu können. Außerdem spielen wir inzwischen Spiele, die über das Niveau des ‚Leiterspiels‘ hinausgehen und somit auch den Erwachsenen Freude machen.
Regel 7: Die Kinder sind ab 20:30 Uhr in ihren Zimmern. Ja, das klappt gut, aber sie kommen halt bis ca. 23:30 Uhr auch immer wieder raus.
Regel 9: Der Junge hat eine Mediennutzungszeit von zwei Stunden täglich. Ich weiß, das entspricht nicht den Empfehlungen der Experten, aber in diesen ‚besonderen‘ Zeiten darf das erlaubt sein. Was soll er denn auch sonst machen? Zu den zwei Stunden täglich kommen hinzu: Einmal Online-Sport, eine Wissenssendung (am liebsten mag er Pur+ oder Checker Tobi), einmal Anton-Lernprogramm (wobei das Interesse daran wieder stark nachgelassen hat). Die Mediennutzungszeit des Kindes kennen wir nicht, aber wir haben das Gefühl, sie hat die Sache im Griff.
Das waren unsere Corona-Regeln, die genau bis jetzt – dem Beginn der Osterferien – Gültigkeit hatten. In den Ferien wird weniger gelernt und gearbeitet und länger geschlafen. Ich hoffe, wir werden jetzt auch mehr mit der gesamten Familie nach draußen gehen, es ist ein Traumwetter gemeldet. Mal schauen, vielleicht werde ich berichten. Ich bin jedenfalls sehr froh, dass wir eine Pause haben von der Lernbegleitung des Jungen. Das hat uns alle ein wenig strapaziert. Jetzt versuchen wir die Ferien bewusst entspannter anzugehen, zumal ja alles andere als klar ist, wie es anschließend weiter geht. Ich drücke uns die Daumen für ein baldiges Ende dieser Krise und dafür, dass so viele wie möglich gesund bleiben.
Hier passiert ja tatsächlich nicht besonders viel, ich sollte mal wieder aktiver werden, aber wenn ein Lebensmeilenstein geschieht, wie Einschulung, Scheidung oder Tod, dann sollte man doch mal wieder in die Tasten hauen. Diesmal: Einschulung. Der Junge. Er ist jetzt endlich auch groß und kein Kita-Kind mehr.
Letzten Samstag fand die Einschulungsfeier mit allem drum und dran statt, und heute ging es dann mit dem ersten richtigen Schultag wirklich los.
Schon am Morgen wollte der Junge am liebsten alleine gehen, aber der Mann und ich bestanden darauf, dass wir ihn ein erstes – und letztes – Mal zu Schule bringen. Das hat geklappt, auch wenn die Lehrerin sich am Aufstell-Treffpunkt um einige Minuten verspätet hatte. Macht nix, für die Vermittlung der Primärtugenden wie Pünktlichkeit sind schließlich die Eltern zuständig, und da haben wir uns nichts vorzuwerfen. Bei der Abholung war ich dann dran. Geflissentlich hatte ich für die Betreuer im Schülerhaus und die Lehrerin eine Bestätigung in zweifacher Ausfertigung geschrieben und mitgebracht, der es dem Sohn zukünftig erlauben sollte, die 150 Meter Schulweg alleine zu bewältigen. Ich traf also pünktlich (!) zur Abholzeit an der Schule ein und entdeckte mein Kind, das mich mit den freundlichen Worten: „Was machst Du denn hier? Wo gehst Du hin? Ich gehe doch alleine nach Hause!“ begrüßte. Wie nett… Ich erklärte ihm, dass ich doch erst einmal die Zettel bei den Betreuern abgeben muss, damit diese auch wissen, dass er alleine gehen darf. Heute sei das letzte Mal, dass ich ihn abhole, versprochen! „Nein ich gehe alleine.“ war seine Reaktion auf diese Erklärung. Und wo sollte ich hingehen, wenn nicht nach Hause? Ich versuchte ihn mit dem Bäcker auf dem Weg zu ködern und versprach ihm, dass wir doch noch gemeinsam ein Schoko-Croissant kaufen könnten, aber damit war er nicht zufrieden. „Nein, Du gehst in den Kaufland und kaufst ein Schokoladenei – das wollte ich schon lange mal wieder haben – und ich gehe alleine nach Hause!“ So wird man also eben mal nebenbei vom Sohn zum Einkaufen verdonnert. Ich setzte erneut an mir zu erlauben mitzukommen, da ich gar nicht wisse, ob die Schwester ihm die Türe öffnen wird, wenn er klingelt (sie ist gerade etwas unpässlich), aber auch das war ihm egal, er würde dann eben auf mich warten. Nun gut, wir machten uns auf den Weg: Ich zum Kaufland, er nach Hause. Blöd nur, dass wir zu 75% den gleichen Weg hatten. So wechselte ich dezent die Straßenseite und lief parallel zu dem Jungen auf dem gegenüberliegenden Gehsteig. Erst entdeckte er mich gar nicht bei seinem stolzen ersten Alleingang von der Schule nach Hause. Als er mich sah rief er: „Och Mama!“ Und ich: „Ja aber ich muss doch hier lang gehen zum Kaufland.“ Schließlich und endlich musste ich abbiegen und der Junge durfte seinen Schulweg ganz alleine vollenden – ohne seine völlig überfürsorgliche Helikopter-Mutter.
P.S.: Das Kind ist übrigens damals auch bereits ab dem 2. Tag alleine zur Schule gelaufen. Wahrscheinlich liegt den beiden die vorzeitige Selbständigkeit in den Genen. Wo haben sie das bloß her?
Ich habe gerade den autobiografischen Roman „Lügen über meinen Vater“ von John Burnside zu Ende gelesen, eigentlich nur, um das Fundament für den Folgeband „Wie alle anderen“ zu legen, aber es hat sich allein schon für das erste Buch gelohnt.
Burnside beschreibt seine Kindheit in Schottland, die von der Alkoholabhängigkeit und Gewalt seines Vaters geprägt war, der trotz seiner Sucht unter Tage und später auch als Fabrikarbeiter geschuftet hat. Er zeichnet unglaublich genau, wie seine Eltern und seine Schwester Margaret und er in dieser Familienkonstellation mit sich und dem Kosmos außerhalb der Familie umgegangen sind. Dabei ist es besonders faszinierend, wie alle Familienmitglieder verzweifelt versuchen, Wertschätzung und Anerkennung zu bekommen, den Schein zu wahren und das Leben immer wieder doch noch zum Guten zu wenden, vergeblich. Der tyrannische Vater wird hier nicht nur als unberechenbares Monster beschrieben, was man Burnside nicht verübeln könnte. Er verwendet stattdessen viele Zeilen darauf auch die schwachen, emotionalen und nachdenklichen Momente dieses zutiefst gestörten und entwurzelten Mannes zu zeigen, wodurch die ambivalenten Gefühle des Sohnes gegenüber seinem Vater nachvollziehbar werden. John hasst seinen Vater und fasst sogar den Plan, ihn zu töten, er wünscht sich aber gleichzeitig einen Vater, der seiner Rolle gerecht wird, statt seinen Sohn ständig zu demütigen und vorzuführen. John muss immer auf der Hut sein, was ihn schon als Kind zum Meister im „Lesen“ seines Vaters gemacht hat, was dem Roman nun natürlich extrem zu Gute kommt.
Die schwierige Kindheit resultiert zwangsläufig darin, dass sich John selbst in Drogen flüchtet, als junger Mann herumvagabundiert und den Kontakt zu den Eltern quasi abbricht. Seine Mutter stirbt qualvoll an Krebs und sein Vater erleidet schließlich vier Herzinfarkte, bis er beim letzten Mal nach den schlimmsten aller für ihn vorstellbaren Tode stirbt – in der Öffentlichkeit vor fremden Menschen.
Das Buch endet beim Beerdigungs-Kneipenbesuch, bei dem die Kumpels von Johns Vater voll Hochachtung über den Verstorbenen sprechen und die alten Hochstapeleien und Lügen, von denen er gezehrt hat, erneut ausbreiten, was John nicht erträgt. „Na ja, Du wirst ihn schon noch vermissen.“ sagt da einer der Kumpel, und John darauf: „Ich habe ihn mein Leben lang vermisst. Glaub nicht, dass ich jetzt damit aufhören werde.“
Jetzt bin ich gespannt auf den Folgeroman, in dem John Burnside beschreibt, wie er aus seinen psychischen Störungen und seiner eigenen Suchterkrankung herauskommt und schließlich wird „Wie alle anderen“.
Der Nikolaus hat dem Jungen in diesem Jahr etwas ganz besonderes gebracht: Ein Paket mit Urzeitkrebseiern und Gehege (Plastikbecken) zum Ausbrüten und Heranzüchten der Tiere. In Wirklichkeit hat der Nikolaus ja MIR dieses besondere Geschenk zugedacht – gab es doch in meiner Kindheit nichts, was ich mir mehr gewünscht hätte, die Urzeitkrebse (Triopse) aus dem YPS-Heft, die auch in anderen Kinderzeitschriften per Annonce angeboten wurden und dort gezeichnet wurden wie echte kleine Wassermänner (siehe hier, damit wurde ich geködert: http://www.ypsfanpage.de/gimmicks/krebse/werbung.jpg). Ich bekam sie nie, aber jetzt wollte ich mir und dem Jungen diesen Kindertraum erfüllen. Ein Set von KOSMOS enthielt alles, was man braucht – außer stilles Mineralwasser und eine Lampe.
Die erste Enttäuschung ereilte uns, als wir im Begleitheft lasen, dass das Wasser erst auf Temperatur gebracht werden muss, bevor man 10-15 Eier in das vom Hauptbecken abgetrennte Aufzuchtbecken einbringen darf, und das dauert eine Weile – quasi über Nacht, mindestens. Bei der weiteren enthusiastischen Lektüre der Anleitung begann dann das Elend. Ich las dem Jungen völlig unbedarft folgenden Hinweis vor:
ACHTUNG! Keine Panik, wenn die Larven und später die Triopse immer weniger werden. Die kleinen Raubtiere sind Kannibalen und fressen sich gegenseitig.
Der Junge schaute mich mit großen Augen entsetzt an, dann verzog sich sein kleines Gesicht und die Tränen strömten herab: „Ich will nicht, dass die sich auffressen!“
Oh Gott, hätte ich diese Warnung doch nie vorgelesen, aber jetzt war es zu spät. Ich wollte retten, was zu retten war, und versuchte dem Kind begreiflich zu machen, dass die Natur vielerlei seltsamer Spielarten aufweist, dass Kannibalismus dort absolut üblich sei und dass die Löwen, die wir ja so mögen, sogar kleine Löwenbabys aufessen, wenn sie vom falschen Papa stammen. Das konnte den Jungen nur kurz von den Krebsen ablenken und ich kann nicht ausschließen, dass die Information zu den Löwen in dem Moment pädagogisch nicht besonders wertvoll war. Und auch das Beispiel der Spinnenweibchen, die die Männchen nach dem Akt verspeisen, konnte dem Jungen die Aussicht auf kannibalistische Urzeitkrebs-Aktivitäten nicht versüßen. Irgendwann schien er sich beruhigt und seinen Frieden mit den Irrungen und Wirrungen der Natur gemacht zu haben und ich glaube, vor allem meine Aussage, dass wir das gar nicht sehen werden, wenn die Krebse sich aufessen, hat ihn beruhigt. Nun bete ich natürlich, dass die Tiere tatsächlich so diskret sein werden, sich vornehmlich nachts, wenn wir schlafen, gegenseitig zu verspeisen.
Nachdem der Junge sich augenscheinlich wieder etwas gefasst hatte, dachte ich unverfänglich weiter laut über unser Aufzuchtvorhaben nach und mir fiel ein und ich sprach’s: „Du, wir sind ja über Weihnachten und danach gar nicht da, was machen wir denn dann mit den Krebsen?“ Der Junge hatte auch keine gute Idee, den Nachbarn kann man die Tiere ja schlecht zumuten und dieses kleine Plastikbecken lässt sich auch nicht gut zu einer Pflegefamilie transportieren. Da kam mir der Geistesblitz: „Weißt Du was, wir bringen die Krebse, die vor Weihnachten noch da sind, einfach in den Neckar.“ Ich dachte, der Junge wäre begeistert, aber er fragte nur trocken: „Ist das Dein Ernst?“ Und ich so: „Ja klar, dann sind die frei, das ist doch toll!“ Und kaum hatte ich mich versehen, sprudelten schon wieder die Tränchen und das Leid war groß: „Aber im Neckar sind doch die Fische und Schiffe, da sterben die doch.“ Mein Hinweis, dass sie sich dort wenigstens so weit aus dem Weg gehen können, dass sie sich nicht gegenseitig aufessen können, verfing leider nicht. Ich hatte das Gefühl, in dieser Angelegenheit wirklich alles falsch gemacht zu haben und gab auf. Der Mann musste retten, was zu retten war und den Jungen wieder beruhigen – wie, war mir egal.
Jetzt bin ich höchst unsicher, ob wir jemals mit der Zucht beginnen werden, aus Angst vor den schrecklichen, unvorhersehbaren Konsequenzen. Der Junge hatte die gute Idee, nur ein Ei zu verwenden, um das Problem des Kannibalismus zu umgehen. Vielleicht wird das die Lösung, wobei ich befürchte, dass die emotionale Bindung zu einem einzigen Urzeitkrebs, der dann womöglich auch noch einen Namen trägt, vielleicht unangemessen groß ausfallen könnte – und wir haben ja noch das Weihnachtsproblem. Und der Neckar wird uns auch nicht helfen, denn das Begleitheft sagt:
ACHTUNG! Niemals darfst du diese Triops-Art in der freien Natur aussetzen! Die Tiere würden bei unseren Klimabedingungen zwar nicht lange überleben, wären aber sehr schädlich für unsere einheimischen Arten.